Als Schreibcoach oder Lektorin gegen Nominalstil anzugehen, ist wie die Küche zu putzen: Kaum hat man eine Ecke sauber gewischt, ist die nächste schon wieder vollgekrümelt. Ist die deutsche Sprache vielleicht einfach prädestiniert für Nominalstil? Ist es Bequemlichkeit? Oder hat der Nominalstil doch seinen Nutzen? Das will ich mir heute einmal mit Ihnen anschauen. Mit dabei: viele Vorher-nachher-Sätze. Denn ja, ein Leben ohne Nominalstil ist möglich!
Was bedeutet Nominalstil?
Unter Nominalstil versteht man die Neigung, einen Satz rund um Substantive zu konstruieren. Etwa hier:
- Die Verlegung der Veranstaltung erfolgte aufgrund schlechter Wetterprognosen.
Erkennen Sie das Problem? Der Satz wirkt einfach nicht einladend, er klingt eher wie eine behördliche Anordnung. Das liegt auch daran, dass kein Mensch drin enthalten ist. Erste Hilfe wäre hier, ein „wir“ reinzubringen, aus „Verlegung“ ein Verb zu machen und gleich noch das „aufgrund“ loszuwerden:
- Da schlechtes Wetter vorhergesagt war, mussten wir die Veranstaltung verlegen.
Ist der Satz in dieser Form schwerer zu formulieren? Eigentlich nicht. Warum also hält sich der Nominalstil so hartnäckig? Fünf Gründe möchte ich für Sie unter die Lupe nehmen.
1. Nominalstil gilt als gehoben
Schreibende greifen oft deshalb zum Nominalstil, weil sie meinen, sich damit gewählter und professioneller auszudrücken. Wer ernst genommen werden will, muss möglichst steife Sätze bilden. Doch woher kommt dieser Glaube?
Wenn wir an typische Nominalstil-Spielwiesen denken, fällt uns Juristen- und Behördendeutsch ein. Die Behörden haben diese Neigung sicher von der Juristensprache übernommen; Letztere scheint mir also die Quelle zu sein.
Schauen wir mal in einen beliebigen Gesetzestext, hier § 49 StVO Absatz 1:
„Ordnungswidrig im Sinne des § 24 Absatz 1 des Straßenverkehrsgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über (…) das Bereiten, Beseitigen oder Kenntlichmachen von verkehrswidrigen Zuständen oder die wirksame Verkleidung gefährlicher Geräte nach § 32 (…) verstößt.“
Der Nominalstil ist hier berechtigt. Ich könnte nicht schreiben: „Ordnungswidrig handelt, wer verkehrswidrige Zustände bereitet, nicht ordnungsgemäß beseitigt oder nicht ordnungsgemäß kenntlich macht.“ Um exakt genug zu sein, brauche ich das Wort „Vorschrift“. Man verstößt gegen eine Vorschrift nach § 32, und diese betrifft … lauter Substantivierungen.
So weit, so gut. Warum aber übernimmt der gemeine Schreibende diesen Stil? Nun: Gesetzestexte sind oft schwer zu verstehen. Das macht Juristendeutsch zu einer elitären Sprache. Und was ist der Impuls, wenn ein Individuum zur Elite dazugehören will? Genau: Es versucht, ihren Stil zu kopieren. Und schon rutscht der Nominalstil in ganz normale Texte, in denen er gar nicht nötig wäre.
2. Nominalstil gilt als kurz und präzise
Grund 2 ist ein Irrglaube. So oft, wie ich Nominalstil-Sätze umformuliere, werden sie dadurch selten länger. Schauen wir uns dazu das folgende Beispiel an:
- Weitere Leistungen sind die Unterstützung beim Umsetzen neuer Produkte und die Zusammenarbeit mit unseren Fachkolleg*innen beim Evaluieren des Erfolges der Projekte.
Ohne Nominalstil:
- Gerne unterstützen wir Sie dabei, neue Produkte umzusetzen. Gemeinsam mit unseren Fachkolleg*innen evaluieren wir anschließend den Erfolg Ihrer Projekte.
Ist der Text länger geworden? Nein. Es ist ein Irrglaube, die Substantive würden einem dabei helfen, sich kürzer auszudrücken. Und selbst wenn: Wenn darunter die Verständlichkeit leidet, ist das kein Vorteil.
3. Nominalstil erspart die direkte Ansprache
Praktisch scheint der Nominalstil immer dann, wenn der Verfasser die direkte Ansprache vermeiden will. Im folgenden Beispiel zögert die Kursleiterin zu schreiben:
- Im Fortgeschrittenenkurs können Sie Ihre Kenntnisse weiter vertiefen.
Stattdessen greift sie zu:
- Der Fortgeschrittenenkurs ermöglicht die weitere Vertiefung der eigenen Kenntnisse.
Warum macht sie das? Ich glaube, dahinter steckt die Sorge, die gebotene Distanz nicht zu wahren. Oder gar einer Interessentin auf den Schlips zu treten, weil sie ihre Kenntnisse bereits für gut genug hält. Das ist natürlich übertrieben vorsichtig gedacht.
Diese Bloß-nichts-riskieren-Schiene greift umso mehr, je unangenehmer die mitzuteilende Botschaft ist. So las ich neulich in meiner Frauenarztpraxis folgenden Hinweis:
- Die Zeitschriften sind zum Verbleib in der Praxis bestimmt.
Ohne Nominalstil würde das etwas ergeben wie:
- Bitte belassen Sie die Zeitschriften in der Praxis.
Das schafft so einen leichten Generalverdacht. Die Patientin mag sich sagen: „Was? Ich hatte doch gar nicht vor, hier Zeitschriften zu klauen!“ Deshalb erschien es der Ärztin womöglich höflicher, zum Nominalstil zu greifen.
Ein weniger höfliches Beispiel hat mir mein Bruder aus dem Duisburger Zoo geschickt. Dort ist am Eingang des Selbstbedienungsrestaurants zu lesen:
- Der Aufenthalt ist an Verzehr gebunden!
Damit wollen die Betreiber*innen verhindern, dass zu viele Leute die Aussicht auf die Tiergehege nutzen, ohne etwas zu konsumieren. Als Alternative ist ihnen vielleicht nur etwas noch Unhöflicheres eingefallen wie:
- Wenn Sie sich in unserem Restaurant aufhalten, müssen Sie auch etwas bestellen.
Das wäre tatsächlich keine schöne Lösung. Hier hilft umdenken:
- Unsere Tische sind für Restaurantgäste reserviert. Vielen Dank für Ihr Verständnis!
Klingt gleich viel netter, oder?
4. Nominalstil erspart ein ich oder wir
Interessanterweise beobachte ich den Nominalstil oft in Texten, in denen eine Person oder Firma ihre Kompetenzen darstellt. Bescheidenheit ist eine Tugend: Vielen Menschen scheint es unangenehm zu sein, zu oft ich oder wir zu sagen.
So schreibt Mitarbeiter X im Karriereblog seiner Firma über seine Aufgaben:
- Dies umfasst unter anderem die enge Begleitung des Karrierewegs der Teammitglieder sowie das Setzen und Nachverfolgen von Jahreszielen.
Augenscheinlich war es ihm unangenehm, aus der Ich-Perspektive zu schreiben – etwa so:
- Als Teamchef freue ich mich, den Karriereweg meiner Teammitglieder zu begleiten. Dazu definieren wir Jahresziele und verfolgen gemeinsam, wie es damit vorangeht.
Dabei klingt das viel wärmer und menschlicher. Nur Mut also zum ich.
5. Nominalstil spart Details
Der letzte Grund, zu Nominalstil zu greifen, ist noch einmal eine recht praktische Sache. Der Nominalstil erspart es einem nämlich, zu sehr ins Detail gehen zu müssen.
- Eine Reparatur erfolgt innerhalb von 48 Stunden.
- Die Nutzbarmachung war erfolgreich.
Verbal umformuliert, muss ich nicht nur ein Subjekt hinzunehmen (wer handelt?), sondern auch ein Objekt: Was wird repariert? Was wurde nutzbar gemacht?
- Wir reparieren Ihr Gerät innerhalb von 48 Stunden.
- Der Verein hat das Gelände nutzbar gemacht.
Eigentlich nicht schlimm, oder? Interessant wird es dann, wenn jemand die Details bewusst verschweigen möchte. Statt „Wir haben XYZ verbessert“ schreibt die Firma einfach:
- Es wurden Verbesserungen vorgenommen.
Aus Leseperspektive wäre es allerdings wertvoller zu erfahren, was genau denn verbessert wurde. Was für den Schreibenden also bequem ist, ist für mich als Leserin von Nachteil.
Fazit: Weniger Nominalstil, mehr Selbstbewusstsein
Sie sehen, auch ich als gegen den Nominalstil ankämpfende Schreibtrainerin kann das Thema durchaus differenziert betrachten. Ja, manchmal ist der Nominalstil praktisch. Menschen haben ihre Gründe, ihn zu nutzen.
Aber was haben alle Gründe gemeinsam? Es sind alles Vermeidungsstrategien. Mit dem Nominalstil will der Verfasser oder die Verfasserin verhindern, …
- für nicht gebildet genug gehalten zu werden,
- unnötig viele Worte zu gebrauchen,
- jemandem auf den Schlips zu treten,
- für ichbezogen gehalten zu werden,
- zu viele Details zu verraten.
Ersetzen wir diese Ausweichhaltung doch lieber durch eine Portion Selbstbewusstsein. Klar habe ich auch ohne Elitensprech schlaue Dinge zu sagen! Klar kann ich mein Gegenüber direkt ansprechen! Klar kann ich „ich“ sagen!
Und noch ein wichtiger Tipp: Es lohnt sich, etwas mehr Mühe aufzuwenden. Wenn ich merke, hier ist etwas schwierig auszudrücken – wie im Beispiel mit dem Verzehrzwang –, sollte ich mir einfach länger Gedanken machen. Denn so bequem der Nominalstil aus Schreibperspektive oft erscheinen mag: Für den Leser oder die Leserin ist er es nie.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Nominalstil? Ertappen Sie sich manchmal dabei, vermeiden Sie ihn, finden Sie ihn vielleicht sogar gut? Ich freue mich über Ihren Kommentar.
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Martina Hagl meint
vielen Dank für Ihren Blog über Nominalstil
(ich habe mich schon häufig geärgert über die bewusste Verklausolierung einfacher Aussagen.
bezw, man kann einfach sagen, was man will oder anbietet.)
Christine Rinn meint
Oh ja, der Nominalstil … ein harter Hund! Es ärgert mich immer, wenn meine absichtlich vereinfachten Sätze von den Fachleuten bei uns im Haus wieder in Richtung Nominalstil umformuliert werden – und dann so umständlich und unpersönlich klingen. Je nach Freigabepartner gelingt meine Überzeugungsarbeit dann glücklicherweise auch. Aber leider halt nicht immer.
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Frau Rinn,
ein gutes Beispiel für die Problematik – man versucht zu retten, was zu retten ist, kommt aber kaum gegen die allmächtige Nominalstilliebe an. 😅
Danke für Ihren Kommentar!
Herzliche Grüße
Annika Lamer
Nina Weber text und buch meint
Wunderbar. Danke für diesen Artikel.
Der speichere ich mir als Lektüre für meine FirmenkundInnen ab.
Als Lektorin und Texterin kämpfe ich auch dagegen an in Kundentexten. Besonders bei Firmentexten geht die „gefühlte Wahrheit“, dass Nominalstil „besser“ ist, eine unheilige Allianz ein mit: „Dann muss ich nicht so oft „ich“ oder wir sagen und kann kürzer ausdrücken, was gemeint ist.“
Gern noch gepaart mit Passivkonstruktionen.
Da sitze ich über den Texten, soll Anschaulichkeit und Storytelling hineinbringen, und versuche zu ergründen: „Wer hat denn überhaupt wann was genau gemacht?“ 🙂
Dr. Annika Lamer meint
Liebe Frau Weber,
genau: „Wer hat denn überhaupt wann was genau gemacht?“ Als Leserin ist das echt nervig, wenn man das nicht genau ergründen kann. Das vermeintliche „kürzer“ ist dann ja eigentlich nur ein: „Ätsch bätsch, wir enthalten euch die entscheidenden Informationen vor.“
Danke für Ihre Gedanken!
Herzliche Grüße
Annika Lamer